SFB 700 – ein Tiefpunkt ist erreicht

Gastbeitrag zur Diskussion um den SFB 700

Am 15.1. fand an der FU eine vom Sonderforschungsbereich 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“ organisierte Vorstellung der Forschungen des SFB-Mitarbeiters Jan Koehler statt. Sie war blamabel und könnte dem wissenschaftlichen Ansehen des SFB schweren Schaden zufügen.

Vorweg: Weder ist es auf diesem Internetportal üblich, noch pflege ich selbst, persönliche Erfahrungen in Texte zu gießen (außer wenn es um Gremienarbeit geht). Ich bin auch alles andere als begeistert von langen Diskussionen und Streitigkeiten, die darin bestehen, sich gegenseitig selbst verfasste lange Texte an den Kopf zu werfen; umso weniger, wenn die Texte persönliche Angriffe enthalten. Hier möchte ich aber aus zwei Gründen eine Ausnahme machen.

Erstens auf Grund der Art meiner persönlichen Involviertheit: Ich bin einer der Wenigen, die beide Diskussionsveranstaltungen der letzten Zeit zum SFB 700 (12.12.08 und 15.1.09) besucht haben; einer der wahrscheinlich noch Wenigeren, die sowohl die Auftragsstudie von Koehler und Christoph Zürcher für das „Bundesministerium der Verteidigung“ (BMVg) (Fußnote 1), als auch das von Koehler verfasste „Working Paper 17“ (WP 17) des SFB mit dem Titel „Auf der Suche nach Sicherheit“, welches am 15.1. vorgestellt werden sollte, gelesen haben; außerdem habe ich in letzter Zeit mit Koehler und Zürcher relativ ausführlich in kritischer Absicht über ihre Forschungen in Afghanistan sowie über damit verbundene Themen kommuniziert, und zwar im Zuge meiner Nachforschungen zu den Hintergründen der BMVg-Studie, aus denen verschiedene Artikel hervorgegangen sind (am ausführlichsten schildert die Ereignisse die Version in Out of Dahlem. Magazin des AStA FU, Nr 8, Januar 2009).

Zweitens hängen Form und Inhalt dieser Veröffentlichung zusammen wie selten sonst: Gerade weil es mir unmöglich war, mit Koehler zu den mich interessierenden Themen ins Gespräch zu kommen, ist mir das Bedürfnis entstanden, diesen traurigen Fakt (notwendigerweise personalisierend) zu dokumentieren, und aus dem gleichen Grund muss es nun eben ein langer Text sein.

Versuche einer Diskussion

Die am 15.1. Anwesenden merkten es: Kritische Fragen nach Koehlers langem Vortrag wurden entweder mit Unmut in Stimme und Mimik beantwortet oder, trotz wiederholter Aufforderung, gar nicht! Kurz vor Ende wurde sogar meine letzte Wortmeldung vom Moderator Prof. Michael Daxner, der gerade Gastwissenschaftler am SFB ist, genüsslich mit dem Hinweis abgelehnt, es sei spät und ich hätte schon zwei mal gesprochen gehabt. Sowohl Daxner als auch Koehler zeigten verbal und mimisch, dass sie Kritik aus einer bestimmten (personellen und inhaltlichen) Richtung nicht akzeptierten und als diffamierend ansahen. Dabei bezogen sich zumindest meine Fragen direkt auf den Vortrag, wo Koehler nämlich einige Male kurz vor einer kritischen Auseinandersetzung mit wichtigen Punkten zu stehen schien: So fragte ich erstens, was er denn generell von der Intervention der Bundeswehr in Afghanistan halte; zweitens, was denn davon zu halten sei, dass dort ein politisches System implementiert wird, das bestimmten Vorstellungen der ausländischen Mächte entspricht, aber in Afghanistan noch nie existiert bzw. funktioniert hat (so stellte es Koehler selbst im Vortrag dar; im Text heißt das auf Seite 7 so: „Im Falle von Afghanistan treffen die westeuropäischen und nordamerikanischen Interventionsmächte in dem Versuch, den Staat als oberstes politisches Ordnungsprinzip wieder herzustellen und seine Geltungsmacht durchzusetzen, auf kulturell fremde und staatlichen wie internationalen Interventionen gegenüber misstrauisch, mitunter feindselig eingestellte Lokalgesellschaften.“ S.a. die Fußnoten Nummer 13 und 73); und drittens, ob es denn nicht problematisch sei, dass die kleinen Hilfsmaßnahmen auf lokaler Ebene zumindest für die Bundeswehr genau den von ihr gewünschten Zweck erfüllen, nämlich, wie eben Koehler in der BMVg-Studie heraus fand, die Bevölkerung positiv gegenüber dem ausländischen Militär stimmen.

Letzteres ist vor dem Hintergrund einiger Inhalte der Studie für’s BMVg zu sehen. So schreibt das BMVg im Forschungsauftrag selbst, dass das Erlangen der Akzeptanz der Bevölkerung eine militärische Notwendigkeit sei und der entwicklungspolitische Auftrag vom militärischen „grundsätzlich“ abweiche (S. A64 und A65). Koehler und Zürcher selbst schreiben, es sei wohl eine Fehlwahrnehmung der befragten Bevölkerung, dass die Bundeswehr bei ihnen vor Ort durch konkrete Maßnahmen zu mehr Sicherheit beigetragen habe; dieser Befund drücke eher ein „generalisiertes Vertrauen in die Kräfte aus, die für eine friedlichere Zeit nach Bürgerkrieg und Talibanherrschaft stehen“ (S. 30). Nicht unwichtig ist da auch, dass Koe/ Zü explizit anmerken, diese Hilfsprojekte seien eine Art Erste-Hilfe-Maßnahme und kein Ersatz für auf die Entwicklung gesamter Provinzen gerichtete Strategien (S. 35).

Alleine schon Koehlers eigene Forschungen geben also genug Gründe für kritische Anmerkungen bei Fragen zur Rolle der Bundeswehr in Afghanistan und dem Zweck der bewaffneten Intervention her, wie ich sie eben stellte. Doch unglaublicherweise verweigerte Koehler schlicht die Beantwortung und faselte etwas von Voreingenommenheiten in Deutschland, die sich nicht für die Wirklichkeit dort interessierten. Auch wenn es taktisch motiviert sei – die Bundeswehr sei nett zur Bevölkerung, das zählte für Koehler. Hier wie auch am 12.12. redete sich Koehler darauf heraus, dass er ja nur Befragungen mache und keine Interventionsbeurteilungen.
Auch meine Bitte, doch zumindest zu kommentieren, wie andere seine Ergebnisse ausnutzen (könnten), lehnte er ab. Das ist geradezu bestürzend angesichts der Tatsache, dass SFB-Sprecher Prof. Thomas Risse im Februar 2008 eine große, vom SFB 700 finanzierte Haushaltsbefragung von Koe/ Zü in Afghanistan in einem jubelnden Artikel für die Süddeutsche Zeitung als Grundlage für ein Hochlebenlassen des staatenübergreifenden Militär-Einsatzes (mit „unseren kanadischen, niederländischen, britischen und amerikanischen Freunden“) in Afghanistan nahm und das Engagement des deutschen Staates dort in allen Belangen und den höchsten Tönen pries. Zur selben Zeit organisierte er sogar eine Pressekonferenz mit Koe/ Zü, wo die Befragungsergebnisse vorgestellt wurden. Damit war sozusagen ein Aushängeschild des SFB 700 in der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit geschaffen. (Fußnote 2)

Es ist in letzter Zeit viel die Rede gewesen von der Heterogenität des SFB 700, dass es ja bisweilen auch intern kritische Stimmen zu dem einen oder anderen Projekt gebe. Am 15.1. hat jedenfalls der wissenschaftsinterne Kontrollmechanismus vollständig versagt. Die Anwesenden (etliche waren vom Fach, viele sicherlich auch vom SFB) hatten wohl Tomaten auf den Augen und den Gehirnwindungen – kein Mensch äußerte Befremden darüber, dass sich ein Sozialwissenschaftler beharrlich weigerte, seine unmittelbaren Forschungsergebnisse zu bewerten/ relativieren (z.B. durch Warnung vor falschen Interpretationen und Vereinnahmungen) und in einem Kontext zu verorten. Bei dem, was Koehler dort erzählte, bestand die wissenschaftliche Leistung alleine in der Verknüpfung von qualitativen und quantitativen Methoden der Sozialforschung. Er präsentierte Prozentaufschlüsselungen der Antworten auf die Fragebögen sowie Erkenntnisse aus Interviews – verweigerte aber sowohl eine etwas umfassendere Interpretation der eigenen Ergebnisse als auch eine Kritik am Missbrauch der selben (denn die belegen tatsächlich nix weiter, als dass die ersten Infrastrukturhilfen bei der Bevölkerung gut ankamen und dass es eine pragmatische Wertschätzung der neuen (Sicherheits-)Lage gab; dass Leute wie Risse sich da in ihren Ansichten zur politischen Zukunft Afghanistans bestätigt fühlen, hat mit Wissenschaft eigentlich nichts zu tun). Dabei kann er sich noch nicht einmal darauf herausreden, erhobene Daten prinzipiell nicht zu kommentieren. In der BMVg-Studie nahm er sich, wie gesehen, sehr wohl heraus, die Einschätzung der afghanischen Bevölkerung bzgl. des konkreten Beitrags der Bundeswehr zur Sicherheitslage in einer rein kommentierenden Fußnote als irrig zu bewerten.

Im Zuge seiner Antworten erwähnte Koehler kurz ein Telefonat, wo ihm auch schon Fragen gestellt worden seien. Das konnten die Anwesenden gar nicht verstehen. Es handelt sich um ein langes Gespräch, das ich im Zuge der erwähnten Nachforschungen zur damals ans Licht gekommenen BMVg-Studie im November mit ihm führte. Da erlebte ich das Gleiche wie am 15.1.: Als ich fragte, ob er kein Problem darin sehen könne, für die Bundeswehr im Kampfgebiet zu forschen, verneinte er kurz. Eine Nachfrage bekam zur Antwort, die Bundeswehr sei nur im Rahmen eines UNO-Mandates tätig und somit eine Schutztruppe. Zwar ist Koehler der Ansicht, dass kein Staat sein Militär aus Menschenfreundlichkeit entsendet. Eine weitere Frageu.a. mit Bezug auf die vom damaligen Minister Struck klar geäußerte auch ökonomische Motivation der Bundesregierung für den Afghanistan-Einsatz (in etwa: „Deutschland ist als Exportland von einer stabilen Weltwirtschaft abhängig“), erregte allerdings Koehlers Unmut, da er derartige Gedankengänge als ideologisch motiviert ansieht; zu holen gebe es sowieso nix in Afghanistan. Er hingegen mache Empirie vor Ort. Umso seltsamer ist es, dass er den ganzen Ahnungslosen, wie er es darstellt, keine auf der eigenen Empirie aufbauende Einschätzung entgegenhalten will. Meine Fragen in jenem Gespräch waren rein wissenschaftlich motiviert (eine wissenschaftliche Arbeit kann gar nicht unwissenschaftlich kritisiert werden, das wäre eher Tabuisierung oder Verbot zu nennen), weder griff ich Koehler an, noch verwickelte ich ihn in eine Diskussion. Ich fragte mehrmals nach, wunderte mich über seine offene Unbedarftheit, bzw. sein Desinteresse an den Fragen, und ließ dann ab. Trotzdem kam er ins Schimpfen (wohlgemerkt nicht über mich persönlich, zumindest nicht offen) – alleine die Themen, die ich ansprach, waren für ihn also ein rotes Tuch. In einer Email teilte er mir wenige Tage später mit, ich sei ihm wie ein „Aktivist“ vorgekommen. Das gleiche Muster wie am 15.1. also.
Auffällig ist, dass Moderator Daxner, der ihm stets beipflichtet und schom am 12.12. lautstark polemisierte, die gleiche Paranoia hat. Er schrieb der studentischen Veranstaltungsgruppe der Diskussion mit dem SFB-kritischen Publizisten Detlef Hartmann vom 12.12. einen langen Brief. Darin gab er zwar zu, nicht zu wissen, wer hinter der Veranstaltung steckte. Das hinderte ihn aber nicht daran, wüste Unterstellungen zu betreiben: Zumindest einige der Gruppe hätten eine „glaubensbasierte Ideologie“ „vor sich hergetragen“. „Oft hatte ich den Eindruck, Sie suchten hauptsächlich Bestätigung für Ihre vorgefassten Meinungen“. „Die Linke, ich meine die Partei und die hinter der Veranstaltung stehende Parteipolitik, greift immer gerne zur Nazikeule […]“. „Was mich besonders empört ist die Kaltschnäuzigkeit, mit der Herr Hartmann und wohl auch die Veranstalter meinen, […]“. „Dass sich die Veranstalter vor den Karren der sich selbst so bezeichnenden „Linken“ spannen lassen, müssen sie mit ihrer Politik und ihrem Geschmack austragen.“ Es bedarf wohl keines Kommentars, um diese Projektionen als solche zu kennzeichnen. Daxner stochert und geifert im Nebel. Wissenswert ist dazu, dass die Diskussionsleitung vom 12.12. sich an der Diskussion nicht inhaltlich beteiligte und nur eine Anmoderation vorlas, die mit diesen Anschuldigungen aber wohl kaum gemeint ist.

Koehlers Informationsgewinnungen in Afghanistan
oder: Was wurde am 15.1. eigentlich präsentiert?

Auf das Publikum wirkte Koehlers Antwort sicherlich souverän, als er auf meine Frage antwortete, warum er bei den Angaben zu den Erhebungen, die die Grundlage für seine Präsentation bzw. den vorgestellten Text sind, nicht die Auftragsstudie für’s BMVg erwähnt hatte. Die Arbeiten an der Auftragsstudie seien schlicht nach jenen Erhebungen gewesen. Ich wusste, dass das nicht ganz stimmt, aber ich konnte es nicht beweisen, da ich mich nicht extra auf die Diskussion vorbereitet hatte und die entsprechenden Textstellen nicht im Kopf hatte.

Jetzt also zur Chronologie der Forschungen Koehlers: Im Februar 2007 wurde die repräsentative Haushaltsbefragung in über 2000 Fällen mit Hilfe afghanischer Nichtregierungsorganisationen durchgeführt. Der BMVg-Studie zu den Provincial Development Funds (PDF) liegen Forschungsaufenthalte (nicht unbedingt Koehlers, er hatte ja ein kleines Team zur Bearbeitung des Projekts) in Afghanistan im April, Juli, August und September des selben Jahres zu Grunde, ab März wurden bereits Interviews in Deutschland geführt. Die Haushaltsbefragung mündete zunächst in das erwähnte, im Oktober 2007 veröffentlichte WP 7 des SFB 700, wurde aber erst, ohne Hinzuziehung weiterer Daten, am 6.2.2008 durch eine Pressekonferenz in den Massenmedien platziert. Die BMVg-Studie trägt das Datum 20.12.2007. Das WP 17, um das es am 15.1. ging, erschien erst Ende November 2008, baut aber stark auf der Haushaltsbefragung auf (und ist quasi die theoretisch aufgestockte Ergänzung zur Datendarstellung im WP 7). Da für die BMVg-Studie mehrere Datenerhebungen statt fanden (Interviews mit zivilen und militärischen deutschen sowie afghanischen „Stakeholdern“, also an den institutionellen Vergabeprozessen für die Hilfsprojekte Beteiligten, und mit „Antragsstellern“ aus entlegenen Dörfern), liegt es nahe, dass auch die für die weitere wissenschaftliche Karriere Verwendung fanden.

In seinem Vortrag nannte Koehler vier dem WP 17 zu Grunde liegende Datenquellen bzw. Erhebungen. Eine davon war die große Haushaltsbefragung, die anderen habe ich mir nicht genau genug gemerkt. Aber es war nicht alles das dabei, was im eigentlich vorzustellenden Text Erwähnung findet. Dass doch auch Erkenntnisse, die im Rahmen der BMVg-Arbeit gewonnen wurden, eingeflossen sind – wenn auch nicht an zentraler Stelle, weshalb Koehler im Vortrag drum herum kam – belegen folgende Textstellen aus dem „Working Paper 17“:

Auf Seite 28 geht es um eine „Stichprobe“ zur Vertiefung der Erkenntnisse aus der Haushaltsbefragung. So wurden im Juli 2007 wieder Haushalte befragt und zwar 351 an der Zahl. Interessant ist das alleine schon, weil Koehler sagte, die seinem Vortrag zu Grunde liegenden Daten seien bis April 2007 erhoben wurden. Aber gut, vielleicht war es eine Nachlässigkeit seinerseits, dass er die Stichprobe vergaß. Nun wird aber die gleiche Stichprobe auch in der. BMVg-Studie erwähnt (wenn auch mit leicht anderen Zahlen: zufällig ebenfalls auf der Seite 28 ist von 354 Haushalten die Rede, bzw. von 358 „Respondenten“ auf Seite 4). Dort wird sie als „Umfrage“ mit all den anderen Datenquellen aufgelistet (S. 4), so dass der Eindruck entsteht, sie sei im Zuge dieses Auftrags gemacht worden. Dieser Eindruck verstärkt sich auf Seite 5, wo die viel zitierte große Haushaltsbefragung als zusätzlich zu all den erläuterten Quellen und ohne Zusammenhang zur kleinen Befragung, der so genannten Stichprobe, dargestellt wird: „Darüber hinaus wurden die – auf ein Kooperationsvorhaben des BMZ (Fußnote 3) mit dem SFB 700 der FU Berlin zurückgehenden – ersten Ergebnisse einer Wirkungsuntersuchung von Entwicklungszusammenarbeit in Nordost-Afghanistan, die u.a. auf einer Umfrage von über 2000 Haushalten basieren, genutzt, um Rückschlüsse auf die Wirkung von Projekten zu ziehen.“ Kann sein, dass die Stichprobe tatsächlich von vornherein geplant war und somit nicht von der Bundeswehr bezahlt wurde. Dann fand sie aber trotzdem zur gleichen Zeit wie die Erarbeitung der BMVg-Studie statt, und nicht vorher, wie Koehler antwortete. Wer das klären will, kann ihn ja persönlich fragen.

Zurück zum WP 17: Wiederum auf Seite 28 ist zu lesen: „In Interviews, die vor dem Beginn der Anschlagsserie im April und Mai 2007 mit Vertretern der operativen sowie der Leitungsebene des militärischen Teils des PRT geführt wurden, ergaben sich eine Reihe von Besonderheiten, die das Auftreten der Militärs im Einsatzgebiet kennzeichneten.“ Es folgt eine halbseitige Darstellung der Annäherungsstrategien von Militärpatrouillen an Dorfbevölkerungen. Diese Ausführungen sind für den Text eigentlich gar nicht nötig, sie wirken wie eine Beigabe, die gerade zur Hand war. Wieso diese Interviews mit den Militärs überhaupt geführt wurden und ob sie etwas mit den Haushaltsbefragungen zu tun haben, wird gar nicht angesprochen. Da es sich aber nicht um eine wichtige Textstelle handelt, geht sie sicherlich unter und kein Mensch kommt auf die Idee, dass sie einer Auftragsarbeit für die Armee geschuldet ist.
Auf Seite 34 wird dann noch einmal ausführlich das Datenmaterial der besagten Stichprobe zitiert. Zur Bestätigung heißt es im Anschluss: „In Gruppeninterviews mit lokalen Gruppen, die sich auf Projekte im Rahmen des Provincial Development Funds (Fußnote 4) beworben hatten (also vor allem Dorfräte, auch zwei Schulen und eine NGO) [… ] bestätigte sich dieses Bild. “ Es folgen zwei Sätze mit Erkenntnissen aus diesen Gruppendiskussionen, die, wie die dortige Auflistung zeigt, für die BMVg-Studie organisiert worden waren, sowie ein ganzseitiges Fallbeispiel eines Dorfes, in das erklärtermaßen Erkenntnisse aus sowohl großer Haushaltsbefragung, als auch Stichprobenbefragung und (Fokus-)Gruppeninterviews eingingen.

Im Anhang des WP 17 werden die angewendeten Methoden genauer dargelegt. Unter dem Punkt „Verlaufsbeobachtung“ (S. 48) heißt es, um über die Haushaltsbefragungen hinaus einen „tieferen, differenzierteren Eindruck“ (über einen Zeitraum von zwei Jahren) zu gewinnen, sei 2007 u.a. das „Setzen ethnografischer Sonden“ praktiziert worden. „Hierbei geht es im Wesentlichen darum, Fallstudien zu einzelnen Gemeinden bzw. zu bestimmten, besonders vielversprechend erscheinenden Prozessen anzufertigen.“ Einer dieser interessanten Prozesse spielt sich praktischerweise in einem Bereich ab, der auch die Bundeswehr dermaßen interessierte, dass sie seine Erforschung sogar bezahlte – was Koehler aber nicht sagt. „Eine umfassende Fallstudie wurde zu einem bestimmten Instrument der Entwicklungszusammenarbeit erstellt, das im Rahmen des deutschen (ressortübergreifenden) PRT-Ansatzes zusammen mit afghanischen Regierungsstellen und lokalen Gemeinden umgesetzt wird – den so genannten Provincial Development Funds (PDF).“
Da es also doch an einigen Stellen der Fall ist, kann nicht gesagt werden, die Forschungen im Bundeswehrauftrag würden nicht in das „Working Paper 17“ (und zukünftige Veröffentlichungen) des SFB einfließen..

Schon in der März-Ausgabe 2008 der Fachzeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit war ein Artikel von Zürcher, Koehler u.a. erschienen, der Erkenntnisse enthält, die im Rahmen der BMVg-Studie gewonnen worden waren. Die Interviews mit den „Stakeholdern“ und den „Antragsstellern“ werden dort zwar ebenfall in einem Anhang erwähnt. Er trägt den Titel „Breite Daten-Basis“. Aber wann und zu welchem Anlass diese Interviews gemacht worden waren, wird, im Gegensatz zu anderen dort aufgeführten Erhebungen, nicht dazugesagt.

Worum geht es eigentlich? Eine andere Annäherung an Afghanistan

Dass kritische Nachfragen sowohl zum Forschungsansatz als auch zu den Forschungen selbst (sofern sie für die Bundeswehr statt finden) angebracht sind, verdeutlicht der Text „Gewalt in Afghanistan“, der in der September-Ausgabe 2008 von Forum Wissenschaft erschien.(Fußnote 5) Dort befasst sich Wilhelm Achelpöhler, der als Anwalt und Mitinitiator der „Grünen Friedensinitiative“ vorgestellt wird, sowohl kurz mit den von Koe/ Zü im BMVg-Auftrag beforschten PRT’s, als auch mit den Einsatzgebieten der Bundeswehr und mit den politischen Hintergründen der Entsendung der Bundeswehr.

Zunächst weist Achelpöhler auf die ständig steigende Truppenstärke der ausländischen Militärs in Afghanistan hin und zitiert verschiedene Führungskräfte der deutschen Politik-Elite, die die weitere Dauer des Militäreinsatzes dort auf zwischen 10 und 40 Jahre schätzen. Dabei sei die Strategie der NATO nur auf die Ruhigstellung der Region aus, weshalb auch mit den lokalen so genannten „Warlords“ kooperiert werde. „Die wachsenden Einnahmen aus dem Drogenhandel zeigen, dass jedenfalls die Warlords mit dieser Zusammenarbeit mit der NATO gut leben können.“ Eine von Achelpöhler zitierte Veröffentlichung des österreichischen Bundesheeres komme zu dem Schluss, dass die PRT’s „deutlich robuster“ auszustatten wären, wenn sie sich wirklich mit den (vom afghanischen Staat eingebundenen und protegierten) Warlords anlegen wollten. „Die PRTs konnten […] zur Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit wenig beitragen“, heiße es in der Studie. Die aus den von Koe/ Zü erforschten Provinzentwicklungsfonds (PDF) finanzierten Hilfsmaßnahmen der Provinzaufbauteams (PRT) sind anscheinend Hilfe von Warlords Gnaden.

Doch selbst wenn das in den von Koehler konkret erforschten Gegenden anders ist (er erwähnt diesen Sachverhalt nämlich nicht) – die ISAF ist laut Achelpöhler sehr wohl schon seit 2006 Teil der kämpfenden Truppen und die Bundeswehr folglich mitnichten nur im relativ ruhigen Nordosten des Landes als Schutztruppe tätig. Mit „einem gummiartigen Vorratsbeschluss“ versehen, könne sie jederzeit für „Unterstützungsmaßnahmen“ angefordert werden, was auch schon mehrfach passiert sei. „Darüber hinaus ist Deutschland an der Gesamtleitung des ISAF-Einsatzes beteiligt. Es trägt damit unmittelbar mit Verantwortung für den gesamten Einsatz – auch im Süden Afghanistans“, wo die Kämpfe toben. Dieser Aspekt findet sich nirgendwo in Koehlers schriftlichen und verbalen Stellungnahmen oder Forschungen, die u.a. die Grundlage für Thomas Risses Yes-We-Can-Hurra bzgl. der militärischen Intervention sind.

Dass die Bundesregierung weder enthaltsam sein kann noch will, was die Einbindung in den Kriegerverbund NATO betrifft ist doch ohnehin klar. „Wir“ sind schließlich wieder „wer“ auf dem globalen Parkett (und auf den globalen Schlachtfeldern). Achelpöhler trägt auch diesbezüglich aufschlussreiche Quellen zusammen. „Es war dem ehemaligen grünen Außenminister Joschka Fischer vorbehalten, die machtpolitische Dimension des deutschen Engagements in Afghanistan auf den Punkt zu bringen.“ So soll Fischer laut Protokoll 2001 im Bundestag gesagt haben: „Die Entscheidung ‚Deutschland nimmt nicht Teil‘ würde auch eine Schwächung Europas […] und […] letztendlich bedeuten, dass wir keinen Einfluss auf die Gestaltung einer multilateralen Verantwortungspolitik hätten. Genau darum wird es in den kommenden Jahren gehen.“ Der „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ bedeute „in der einen Welt des 21. Jahrhunderts internationale Ordnungspolitik“ so Fischer im gleichen Jahr, ebenfalls im Bundestag. Und weiter: „Es geht darum, eine Weltordnung zu schaffen, die Zonen der Ordnungslosigkeit oder gar, wie es in weiten Teilen der Fall ist, des völligen politischen Ordnungsverlustes nicht mehr zulässt.“ Das bedeute „vor allen Dingen auch, dass wir bei der europäischen Integration vorankommen müssen. Wenn wir getrennt bleiben, werden die Europäer in der neuen Weltordnung marginalisiert.“ Gegen die USA gerichtet fordern also europäische Regierungen ihre Mitbestimmung bei der Weltenlenkung ein, was den Zwang zum Mitkämpfen bedeutet. Afghanistan wird, auch in den Worten des von Achelpöhler zitierten Ex-Kriegsministers der USA Gates, zum Prüfstein für die Kooperationsbereitschaft der europäischen Regierungen in der NATO.

Die Schweizer Regierung habe übrigens im März 2008 ihre Truppen zurückgeholt, weil sich der Charakter der ISAF-Mission grundlegend gewandelt habe. Achelpöhler schließt mit den Worten: „Die Soldaten der Schweiz waren in Kunduz stationiert – dort, wo auch die Bundeswehr steht.“

Ganz neutral für den modernen Staat

Mit all diesen Themen will sich Koehler wahrscheinlich nicht abgeben, da seine Forschungen ja andere Realitätsausschnitte betreffen. Das brachte ihn bei der Diskussion am 12.12. witzigerweise in Gegensatz zu OSI-Prof Bernd Ladwig, der am SFB in der Theorie- und somit normativen Fraktion mitarbeitet und vehement den Menschenrechtsinterventionismus befürwortet(e). Koehler setzt sich laut eigener Aussage aber nicht für die Intervention ein, seine Forschung diene von ihm aus auch nicht der Zementierung des neuen Regimes.(Fußnote 6) Sein neuester Text sagt anderes. Koehler ist genauso für das neue politische System, wie er sich auch mit Fragen von gelingenden Interventionen beschäftigt.

Zu ersterem: „Staatsgründende Interventionen“ und „externes State-Building“ (Fußnoten 5 und 8) sind für Koehler keine negativen Begriffe, auch keine rein deskriptiven. Er findet schon im ersten Teil des Textes Gründe für diese Projekte: „Die durch Entwicklungszusammenarbeit angestrebten Veränderungen sind nicht nur umfassend; sie setzen auch einen Grad gesellschaftlicher Differenziertheit in funktional getrennte Teilsysteme voraus, die in von Konflikten zerrissenen Ländern wie Afghanistan nicht gegeben ist“ (S. 8f.). Konkret seien das die Teilsysteme Politik, Wirtschaft und „Soziales“ (Koehler meint wohl Sozialpolitik, wie aus den angegebenen Beispielen hervorgeht) und die müssen jetzt durch die Errichtung eines „modernen Staates“ überhaupt erst geschaffen werden, d.h. ganze Lebensweisen müssen umgekrempelt werden. Gerade ethnologische Vorbildung sollte doch eigentlich helfen, solche Fragen kritischer anzugehen als in der eher zu Oberflächlichkeit neigenden Politikwissenschaft (Koehler ist von der Ausbildung her Ethnologe). Dass es gravierende Nachteile mit sich bringt, z.B. die Sphären Politik und Wirtschaft zu trennen, da das ein dem eigenen Bewusstsein nach unpolitisches Leben überhaupt erst ermöglicht, sollte doch klar sein. Umso klarer in unserem System, wo wir eine laange Geschichte analysieren können, in der die Menschen nach dieser gewaltsamen Trennung auf Grund ihrer Abhängigkeit von den Produktionsmitteln anderer den ganzen Tag in dem vom Haushalt abgekoppelten Subsystem „Wirtschaft“ arbeiten mussten, um ihre bloße Reproduktion zu gewährleisten; und deswegen herzlich wenig Interesse an „Politik“ hatten. Vielleicht sollte es in Zukunft verpflichtend für jedes sozialwissenschaftliche Studium sein, ein paar Blicke auf die gegenwärtigen Wahlbeteiligungen und Interessensbekundungen für das politische Geschäft in den reichen, oberdemokratischen Staaten geworfen zu haben. Dann wäre mehr Sensibilität da für solche urbürgerlichen (und somit elitären) stillen Voraussetzungen wie die von der Politik nach Feierabend, der Mitbestimmung als voluntaristische Freizeitbeschäftigung, quasi also als Hobby.

Aber diese Voraussetzung wird nun mal gemacht, der Staat muss die alte Lebensordnung auflösen, wo die Involviertheit in Herrschaftsverhältnisse und Ressourcenverteilung – heute Politik genannt und in einen vermeintlich separaten Bereich abgeschoben – noch Teil des Alltags war (ein Zustand, den ich hier nicht glorifiziere). Die Frage ist nun nur noch, wie „Sicherheit als zentrale Governance-Leistung“ erzeugt und verteilt wird, „wer auf welche Weise an der Erbringung und am Konsum von Sicherheit beteiligt ist (S.9)“. So weit die Vorrede des Papiers. Diese Fragen will Koehler nun empirisch klären. Das ist an sich eine legitime (Teil-)Fragestellung. Wer sich aber weigert, bei Auswertung und Präsentation der Forschungen den Rahmen der Geschehnisse (beispielsweise alleine die Motive für das Bedürfnis der Intervenierenden nach „externem State-Building“) miteinzubeziehen, ist zumindest vermutlich politisch und jedenfalls wissenschaftlich naiv. Koehler beschreibt klar eine Tabula-Rasa-Situation in Afghanistan, eine Art ‚Stunde Null‘. Es sollte eigentlich für eine auch politikwissenschaftliche Analyse wie diese selbstverständlich und geradezu erstes Bedürfnis sein (schließlich gibt es diese Fälle wohl nicht so oft auf dem Silbertablett wie hier), zu fragen, welche politische Ordnung dort warum, von wem und unter Zuhilfenahme welcher Legitimierungsstrategien errichtet werden soll.
Doch Koehler bezieht ja noch nicht einmal die eigenen ansatzweise kritischen Erkenntnisse mit ein, z.B. zur konkreten Rolle der Bundeswehr vor Ort.7 Im neuesten Text findet sich da eine längere Passage, die eigentlich zu denken geben sollte, da sie zeigt, wo die Prioritäten beim State Building liegen – nämlich eben bei der Schaffung von bestimmten Institutionen. Das ist ja auch klar, denn auf Verhandlungen mit Dorf- und Distrikträten hat sicherlich kaum ein Ministerium oder Unternehmen der Welt Lust. So schreibt Koehler also, „dass die Sicherheit der Bevölkerung – anders als Wiederaufbau und Entwicklung zum Wohle der Bevölkerung – nicht expliziter Auftrag und auch nicht Teil des Sicherheitsbegriffs der in Afghanistan intervenierenden externen Kräfte ist. Das ISAF-Mandat bezieht sich auf die Schaffung einer sicheren Umgebung, die Wiederaufbau, Entwicklung und die Verfestigung staatlicher Institutionen ermöglicht. Im Fall der ISAF (und damit auch der PRTs in den Provinzen) ist die Sicherheit der Bevölkerung also allenfalls eine indirekte Funktion der eigenen Präsenz – die (innere) Sicherheit verbessert sich theoretisch dadurch, dass der staatliche Sicherheitssektor aufgebaut wird und Wiederaufbau sowie Entwicklung greifen“ (S. 38). Sicherlich, das klingt ja in Teilen durchaus freundlich. Aber das „theoretisch“ im letzten Satz stört schon, oder? Wie lief das noch mal im Irak die letzten Jahre? Prioritäten sagen ja schon etwas aus. Es ist eben nicht prioritär, den Leuten erst einmal zu helfen (in puncto Sicherheit und auch Lebensqualität), was ja eigentlich im Sinne Koehlers wäre, und dann zu sehen, was daraus wird (aus der eingegangenen Beziehung) (Fußnote 8) Sondern das Gewünschte – die staatlichen Institutionen nebst genehmem Personal – wird erst einmal herbeigeführt und die Bevölkerung – ob komplett oder nur teilweise, spielt ja erst einmal keine Rolle für die Intervenierenden – darf dann von einem ganz spezifischen Sicherheits-, Aufbau- und Entwicklungsangebot profitieren.

Entgegen eigener Aussage zerbricht sich Koehler sogar durchaus den Kopf bzgl. der Erfolgschancen von solchen Interventions-Operationen. Immer wieder geht es in dem Text darum, welche Herausforderungen die „Interventen“ zu meistern haben, was alles nötig ist, um den modernen Staat aufzubauen, sich die Akzeptanz der Bevölkerung zu sichern etc.

Das Fazit auf S. 37 beginnt dementsprechend mit den Worten: „Die vorliegenden Ergebnisse […] lassen eine Reihe von Rückschlüssen auf Chancen und Grenzen transnational erwirkter Sicherheit im Rahmen komplexer Interventionen zu, die über das konkrete Fallbeispiel in Nordost-Afghanistan hinausweisen.“ Die Analyse hebt an: „Grundsätzlich geht es bei externen Interventionen in fremde, vom Zusammenbruch funktionsfähiger staatlicher Institutionen heimgesuchter Länder wie Afghanistan darum, das Problem gesellschaftlicher Ordnung beeinflussend in den Griff zu bekommen.“ Doch was sagt uns das schon? Menschengruppen geben sich immer mehr oder weniger elaborierte soziale Ordnungen, das unterscheidet ja das Kulturwesen Mensch von den nicht-menschlichen Tieren. Solche Leerformeln sind ein Zeichen dafür, dass nicht hinter die Kulissen geschaut wird, denn andere, durchaus erwähnenswerte Aspekte, werden so totgeschwiegen (und wohl auch übersehen). Es ließe sich ja an der Stelle statt dessen auch sagen (nach Koehlers Ansicht aus ideologischen Gründen), es gehe bei derartigen Interventionen „grundsätzlich“ um die eigene Machtausweitung und die Erschließung von Märkten, quasi darum, einen entfernten Erdteil „beeinflussend in den Griff zu bekommen“.

Wie schon an anderer Stelle, bzw. auch im Vortrag, erwähnt Koehler auch hier in einer kurzen Fußnote (wieder zum allgemeinen „Problem gesellschaftlicher Ordnung“ und, damit verbunden, State Building), dass irgendwer in irgendeinem Buch oder Aufsatz auch eine Kritik an dieser oder jenen Strategie oder Vorstellung geäußert habe bzw. wählt eine Formulierung, die wie der Anfang einer Kritik aussieht. Doch kommt wie immer nix. Bzw. es folgt, in diesem Fall, eine Passage, bei der sich die Frage stellt, ob Koehler sich der eigenen denkerischen Voraussetzungen überhaupt bewusst ist. Sie beginnt mit einem Allgemeinplatz: Koehler erwähnt „eine seit Max Weber und Norbert Elias etablierte Annahme der Soziologie, nämlich dass Schutz vor willkürlicher Gewalt elementarer ist für Etablierung von sozialer Ordnung als die Verbesserung materieller Reproduktionschancen. In dem Bemühen, durch eine komplexe Intervention eine staatlich verfasste Neuordnung von Lokalgesellschaften in Afghanistan zu erreichen, kommt verbesserter Sicherheit damit eindeutig eine höhere Priorität zu als Entwicklungsleistungen.“ Wer hat’s gemerkt? Da wurde heimlich der Staat in die Argumentation eingeschleust! So einfach, so praktisch: Hast du Probleme mit soziale Ordnung, nimmst du moderne Staat! Hattest du noch nie, kennst du nicht? Macht nix, liefert Bundeswehr, mit Gebrauchsanweisung. Der folgende Satz lautet: „Die Fallstudie zeigt deutlich, dass Schutz vor willkürlicher Gewalt in den Augen vieler Betroffenen nicht nur ein Wert an sich, sondern auch maßgebliche Voraussetzung für positive wirtschaftliche Entwicklungen ist.“ Und schon sind wir wieder zurück bei Allgemeinheiten: Schutz vor willkürlicher Gewalt sowie positive wirtschaftliche Entwicklungen. Wie praktisch wieder, dass also ja irgendwie doch die Leute in Afghanistan die vorgeschlagene Lösung für das zeitlose Problem der Schaffung sozialer Ordnung auch gut finden. Das geht doch aus der „Fallstudie“ hervor, oder? Die Krönung kommt im letzten Satz der Passage: „Die Schutzkomponente der Governance-Leistung Sicherheit verbessert Planungssicherheit der Wirtschaftsakteure und ist Voraussetzung für erhöhte Rechtsicherheit bei marktwirtschaftlichen Transaktionen.“ Schwupps, ist die Marktwirtschaft eingeführt (zumindest in den Text)! Wir haben aber auch ein Glück heute, dass diese Universalheilmittel ‚Moderner Staat‘ und ‚Marktwirtschaft‘ so umstandslos zur Verfügung stehen, uns geradezu nachgeworfen werden. Wie sind bloß die Menschen zu anderen Zeiten mit diesen universellen Problemen von sozialer Ordnung und willkürlicher Gewalt umgegangen? Aber wer möchte sich so was schon vorstellen…

Kritik hier, Kritik da

Koehler weiß sicherlich, dass seine Durchleuchtung von Dorf- und Haushaltsstrukturen, von Denkweisen der Bevölkerung, ihren aktuellen Einstellungen hinsichtlich des ausländischen Engagements und ihrer Befriedbarkeit sehr hilfreich, vielleicht sogar notwendig für die (notfalls militärische) Durchsetzung des Staatenprojekts, wie es den Lenkern der Weltpolitik vorschwebt, ist. Er hat eben kein grundsätzliches Problem damit, wie er auch kein brennendes Problem mit den sozialen Verhältnissen hierzulande hat. Auf diesen Fakt lassen sich die hier geschilderten problematischen Forschungen und Grundannahmen runterbrechen. Koehler und Co. hatten mehr als eine Gelegenheit, sich zu Kapitalismus, (Neo)Kolonialismus, modernem Staat etc. zu äußern, fanden das aber wohl nicht zum Thema zugehörig. Oder sie haben dazu nicht viel zu sagen.

Dass in der Sozialwissenschaft von vielen Leuten offensichtlich nach dem Ehrenkodex vorgegangen wird, die Thematisierung der herrschenden Verhältnisse (und somit die Kapitalismuskritik) auszusparen und sich lieber irgendeinem aus diesem Zusammenhang gerissenen Teil der vielfältigen sozialen Beziehungen hier oder around the world gewidmet wird, ist ja nichts neues.(Fußnote 9) Wer sich aber für ein politisches Projekt einsetzt, in welcher Form auch immer, sollte das zumindest nicht abstreiten bzw. es sich vollends eingestehen.

Denn genau daran krankt der Diskurs am OSI um den SFB. Es wird sich zu wenig zu den harten Themen – Kolonialismus, Kapitalismus, gegenwärtige Staatsformen, Zweck von Sozialwissenschaft usw. – positioniert, oder anders ausgedrückt: Das kritische Gewissen einiger Studierender wird nicht mit reflektierten Argumentationen zum Verstummen gebracht, schlimmer noch, deren Engagement wird als unredlich oder dümmlich empfunden. So sah Koehler am 15.1. überhaupt keinen Grund, auf die Frage aus dem Publikum, warum er sich mit seinen Afghanistan-Forschungen an einem (neo)kolonialen Projekt beteilige, mehr zu antworten als: „Das tue ich nicht.“ Einige Ausführungen zu seinem Verständnis von (Neo)Kolonialismus wären nicht nur hilfreich, sondern auch eine minimale Respektbezeugung eines Wissenschaftlers gegenüber interessierten und besorgten (zumindest das sollte doch auch Koehler als irgendwie ehrenhaft anerkennen können) Studis gewesen. Wenn das so weitergeht, wird sich der Eindruck verfestigen, dass zu diesen Themen vom SFB 700 aus nicht viel Überzeugendes gesagt werden kann. Ich habe diesen Eindruck schon, deshalb schildere ich hier derart ausführlich sowohl die Gespräche vom 15.1. als auch meine vorherigen Kontakte.
Ins traurige Bild passt übrigens, dass sich Daxner auch am 15.1. wieder über drei Studis lustig machte, die er überhaupt nicht kannte. Sie standen in so genannter „Abendgarderobe“ vor dem Hörsaal und forderten mit Listen in der Hand alle herannahenden Veranstaltungsgäste dazu auf, ihre Namen zu sagen, da die kontrolliert werden müssten (was nach ihrer Aussage auch erschreckend gut klappte). Das war wohl eine Erinnerung an Mitte Dezember, als wegen mit dem SFB 700 zusammenhängenden Veranstaltungen zwei Mal innerhalb von drei Tagen ein externer Sicherheitsdienst am und im OSI aktiv war und die Diskussionsveranstaltung vom 12.12. sogar den Raum verweigert bekam. Jedenfalls rief Daxner, als er von drinnen die Aktion bemerkte, grinsend einer neben ihm stehenden Person zu: „Jetzt haben die wenigstens mal was anständiges an!“

Abgehobene Wissenschaft und Wissenschaftler? Es scheint so. Durch Clusterisierung und Elitisierung wird das noch schlimmer: Sozialwissenschaft als Teil des Eliten-Paralleluniversums. Die Arroganz gegenüber (kritischen) Andersdenkenden wird in Zukunft immer leichter auf das extra staatlich verliehene Zertifikat der besonderen Wissenschaftlichkeit und Wichtigkeit verweisen können.

Ich hoffe, dem mit diesem langen Text etwas entgegengesetzt zu haben. Er soll übrigens nicht der Anfang einer detaillierteren Debatte sein, zumindest nicht für mich. Für mich ist dieses Kapitel beendet. Ich habe keine Lust, den Herren Wissenschaftlern permanent im Sinne kritischer Wissenschaft heimzuleuchten.

Rettet das Niveau!
Bundeswehr? Wegtreten!
Fahrt zu den NATO-Geburtstagsfeierlichkeiten am 3. und 4.4. an den Rhein!
Im Superwahljahr 2009: Deutschland abwählen!

Ralf Hutter, 20.1.2009

(1) Es handelt sich um eine Evaluierung von zivil-militärisch organisierten Infrastrukturhilfen in Nordost-Afghanistan, die mit Geld aus Deutschland über „Provinzentwicklungsfonds“ (PDF) finanziert werden und von „Provinzaufbauteams“ (PRT) organisiert werden. Die Arbeit wurde nicht im universitären Kontext ausgeführt, sondern als privatwirtschaftliche Auftragsarbeit über ein kleines Unternehmen, das Koehler mit leitet, abgewickelt. Die Studie wurde von den Beteiligten nicht wirklich veröffentlicht, steht aber seit November im Internet: http://de.indymedia.org/2008/11/231649.shtml (unten, bei den Ergänzungen)

(2) Nebenbei bemerkt: Es handelt sich dabei auch um ein Beispiel für die wirkungsvolle Inszenierung von wissenschaftlichen Ergebnissen. Die Ergebnisse der Haushaltsbefragung waren nämlich schon im Oktober 2007 auf der SFB-Homepage als „Working Paper 7“ (WP 7) veröffentlicht worden. Die Pressekonferenz sowie Risses Artikel datieren aber auf Anfang Februar 2008, erstere sogar zufällig (?) auf den gleichen Tag, an dem „die Entsendung eines 200 Mann starken Kampfverbandes der Bundeswehr nach Afghanistan beschlossen wurde“ (laut dem ebenfalls auf der SFB-Homepage vorhandenen Papier, in dem Philipp Haaser die Medienresonanz auf die Pressekonferenz zusammenfasst).

(3) Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

(4) Die erwähnten Provinzentwicklungsfonds, die für das BMVg evaluiert wurden.

(5) Die Zeitschrift liegt im Roten Cafe am OSI aus.

(6) Das steht neben seinen, und übrigens auch Daxners und Zürchers, wiederholten Plädoyers dafür, die afghanische Bevölkerung nicht „wieder“ im Stich zu lassen, zu verstehen, dass da gerade 30 Jahre Bürgerkrieg waren und dem ein Ende gesetzt werden muss(te). Ob diese grundlegenden (falschen) Mitleidigkeiten den Blick auf die kritikwürdigen Aspekte des Militäreinsatzes behindern?

(7) Siehe dazu zum Beispiel meine Zusammenfassung der BMVg-Studie, die diesem Text als Datei anhängt.

(8) Dass eine derartige Beziehungsperspektive in den dort analysierten SFB-Papieren nie vorkommt, ist auch in einigen Texten der neuen Broschüre https://fachschaftsinitiativen.files.wordpress.com/2009/01/embedded-stakeholders1.pdf zu lesen. Es werde immer die Staatsperspektive eingenommen, bzw. die übergeordnete Position der mit Geld und politischen Ideen (und einem Mitregierungswillen) ausgestatteten Intervenierenden.

(9) Ich nutze die Gelegenheit, einen diese Haltung kritisierenden und immer noch aktuellen Text zu empfehlen: Traditionelle und kritische Theorie von Max Horkheimer, und zwar am besten die Version in dessen Gesammelten Schriften, Band 4.

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8 Gedanken zu “SFB 700 – ein Tiefpunkt ist erreicht

  1. Finde diesen Text nicht zu lang, sondern angemessen. In kurzen Blogeinträgen kommt das Thema schwerlich weg von oberflächlicher Polemik. Schade nur, dass für den Verfasser an diesem Punkt die Diskussion endet. Der Text bietet doch erst die Grundlage für eine sinnvolle Diskussion.

  2. Ich finde auch, dass ruhig ein langer blogtext geschrieben werden kann, wenn es auch nicht PR-tricky ist und sicherlich die weingsten sich da durchklamüsern. Hast du die mal direkt angeschrieben? Vielleicht kommt ja ne Antwort.
    Ich finde viele deiner Punkte super. Ein paar Sachen machen aber den ganzen Ton kaputt: Wenn du schreibst, dass die Blicke so und so waren oder dass die arrogant waren. Nee, das ist sowas von Nörgelei und passt nicht zu deinen inhaltlich sinnvollen Argumenten. Ich kenn das ja, aber nutz sowas eher um unter Freunden zu lästern. Im schriftlichen würde ich darauf verzichten.

    Ansonsten: Ja, lass uns das dem SFB um die Ohren hauen!

  3. Heute kam im deutschlandfunk ein bericht aus afghanistan, wo der korrespondent u.a. sagte, die bundeswehr halte sich bei der bekämpfung des drogenhandels bzw der davon profitierenden ‚warlords‘ eher zurück, um die ’nicht noch mehr‘ zu verärgern. Er stellte das in gegensatz zu den us-truppen u.a.. D-land habe eben eine andere militärische kultur oder so, auf jeden fall stellte er das positiv dar…
    USA oder D – ich bin ja immer noch skeptisch, was die wohltätigkeit eines militärischen kampfeinsatzes betrifft, wenn er von weltordnungsabsichten angetrieben wird. Ob da mal nicht ganz schnell ein paar (millionen) menschen oder zumindest deren interessen hinten runter fallen…

    Hintergründe zu der ganzen geschichte und weitere Auseinandersetzungen mit dem SFB und den Koehler-Studien finden sich übrigens im neuen ‚out of dahlem‘:
    http://www.astafu.de/aktuelles/archiv/a_2009/news_01-29

  4. Pingback: Bericht über die Koehler-SFB-Veranstaltung « FUwatch

  5. Pingback: Zur siebten Ausgabe der OSI-Zeitung « FUwatch

  6. Hier ein hoch interessanter radiobeitrag, der neulich im deutschlandfunk kam:
    [audio src="http://podcast-mp3.dradio.de/podcast/2009/02/14/dlf_20090214_1840_5668ffb4.mp3" /]
    http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/919774/
    Afghanistan, die Taliban und der Westen
    Gescheiterte Strategien am Hindukusch?

    Es geht um genau die themen, die auch in der studie für’s ministerium behandelt wurden. U.a. begleitet der journalist deutsche soldaten, als sie in einem dorf projektantragsformulare für die militärisch-zivile hilfe verteilen wollen, aber wegen sicherheitsbedenken keine zeit für erklärungen haben und gleich wieder abhauen müssen.
    Zumindest im nachhinein werden etliche themen der studien von koehler in einem anderen licht zu sehen sein.

    Nicht das gleiche thema, aber auch höchst interessant ist folgender beitrag gewesen:
    http://www.dradio.de/dlf/sendungen/dasfeature/878627/
    Truppentransporte für den Aufbau Ost
    Wie der Flughafen Leipzig/Halle zum Militärdrehkreuz wurde

    Zitat: „Inzwischen ist jeder vierte Passagier in Leipzig/Halle ein US-Soldat. “
    Unter dem link ist auch ein manuskript der kompletten sendung zu finden.

  7. Pingback: Binnen-I, Gender Gap, Unterstrich oder Sternchen? « Analyse, Kritik & Aktion

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